102 Jahre Straßenbahnverkehr nach Westerhüsen

In diesem Beitrag schreibt Ralf Kozica vom Verein IGNah e.V. über die Geschichte der Straßenbahnstrecke vom Buckauer Wasserwerk in Richtung Süden bis nach Schönebeck-Frohse.

Ab Samstag, dem 1. Juli finden ab 14 Uhr zahlreiche Vorführungen statt, bei denen sowohl für die Ohren, als auch für die Augen einiges geboten wird.

Wenn der Bürgerverein Salbke, Westerhüsen, Fermersleben e.V. am 1. und 2. Juli 2023 ein großes Fest zum 1200-jährigen Bestehen Westerhüsens auf dem Gelände an der Gierfähre ausrichtet, können die Gäste mit der Straßenbahn anreisen. Neben der regulären Linie 2 fährt nachmittags auch eine historische Straßenbahn als Linie 77. Und das ist nur konsequent, denn auch die Straßenbahn prägte die Geschichte des Stadtteils.

Industrie als Motor für den Nahverkehr

Viele Väter begründeten vor mehr als einhundert Jahren den Gedanken, die Vororte Westerhüsen, Salbke und Fermersleben mit einer elektrischen Kleinbahn an Magdeburg anzubinden.
Die Vorort-Gemeinden strebten in den 1900er Jahren die Eingemeindung nach Magdeburg an, versprach dies doch Annehmlichkeiten wie den Bau von Wasser-, Gas- und Stromanschlüssen sowie leistungsfähiger Verkehrswege.
Die Stadt Magdeburg hoffte im Gegenzug, an den zu erwartenden Steuereinnahmen aus Industrieansiedelungen und dem damit verbundenen Wohnungsbau teilhaben zu können.
Nicht zuletzt die Industrieunternehmer selbst, maßgeblich der Industrielle Rudolf Wolf, wünschten für ihre Belegschaften eine Verkehrsverbindung zwischen Wohn- und Arbeitsorten.

Die Magdeburger-Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft MSEG zeigte sich aufgrund der geringen Rentabilität einer Netzerweiterung desinteressiert an der Erschließung der Vororte mit einer Straßenbahn.

Straßenbahn in Eigenregie

So entschloss sich die Stadt Magdeburg, den Vororten in den Eingemeindungsverträgen den Bau einer Bahn zuzusagen, um bei zukünftigen strategischen Entscheidungen handlungsfähig zu bleiben. Am 1. April 1910 wurde die Eingemeindung der Dörfer Westerhüsen, Salbke und Fermersleben vollzogen. Um den zugesagten Bahnbau ohne die MSEG realisieren zu können, gründete die Stadt am 27. August 1912 die »Magdeburger Vorortbahnen-AG« als kommunalen Betrieb. Mehrheitsaktionär war die Stadt Magdeburg. Als weiterer Aktionär brachte die »Bergmann Elektricitäts-Werke AG« Berlin erhebliches Kapital und die technische Kompetenz für den Bahnbau ein.

Mit Beginn des 1. Weltkriegs 1914 hatte die Produktion kriegswichtiger Rüstungsgüter Vorrang, der Bau der Vorortbahn musste zurückstehen. Zwei Männer trieben jedoch den Bau der Vorortbahn über die Jahre gegen alle Widrigkeiten erfolgreich voran: Der Direktor der Vorortbahngesellschaft Herkt und der Stadtrat Prof. Dr. Landsberg. Am 16. September 1921 fuhr endlich der erste Vorortbahn-Zug auf der 6,3 Kilometer langen Strecke von Westerhüsen bis Buckau.

Die Vorortbahn war von Beginn an nicht wirtschaftlich zu betreiben. In Buckau mussten die Fahrgäste von der MSEG in die Vorortbahn umsteigen. Der relativ teure Staffeltarif führte dazu, dass die Arbeiter der Südoster Betriebe lieber mit dem Fahrrad oder der Eisenbahn zur Arbeit fuhren. Außerdem schwankte das Fahrgastaufkommen stark, denn es fand ja eigentlich nur Berufsverkehr statt. Und der Betriebshof in Westerhüsen erforderte frühen Arbeitsbeginn und spätes Arbeitsende der Vorortbahner, um die Züge für die Fahrgäste bedarfsgerecht aus- und einrücken zu lassen.

Während der Inflationszeit 1922/23 ging die Vorortbahn wirtschaftlich in die Knie. Da inzwischen die Stadt Magdeburg die Aktienmehrheit der MSEG erworben hatte, bestimmte sie die Betriebsübernahme auf der Vorortbahnstrecke durch die MSEG ab Februar 1923.

Für eine ausführliche Bildbeschreibung klickt bitte auf die Bilder.

Mit der S-Bahn nach Schönebeck

Die Einführung eines durchgehenden umsteigefreien Verkehrs von Westerhüsen in die Magdeburger Innenstadt verbesserte die Rentabilität der Vorortbahnlinie nicht. Der Betriebshof Westerhüsen wurde sogar von 1923 bis 1926 stillgelegt. Erst 1926 zog wieder Betriebsamkeit ein, als schrittweise die Verlängerung der Vorortbahnstrecke von Westerhüsen bis Schönebeck in Betrieb genommen wurde.

Ab 8. September 1926 verkehrten zwei Vorortbahn-Linien:
Linie 12
Westerhüsen – Breiter Weg – Staatsbürgerplatz (heute Universitätsplatz) mit rund 11 km Länge
Linie 14
Schönebeck – Breiter Weg – Staatsbürgerplatz mit rund 17 km Länge

In den nächsten Jahrzehnten wechselten immer mal wieder die Linienführungen – und die Staatsformen. Der Streckenabschnitt in Buckau, Fermersleben, Salbke und Westerhüsen blieb jedoch stets für den Berufsverkehr zu den in Südost ansässigen Industriebetrieben wichtig. Am 29. Juni 1969 war allerdings letzter Betriebstag der Linie 14 auf der Strecke zwischen Westerhüsen und Schönebeck. Dieser wenig ausgelastete Abschnitt wurde stillgelegt. Mit der Eisenbahn erreichten die Bewohner des Magdeburger Umlandes ihre Arbeitsplätze in Südost einfach schneller. Insbesondere als die Deutsche Reichsbahn ab 29. September 1974 einen attraktiven S-Bahn-Verkehr zwischen Schönebeck und Zielitz einrichtete. Mit der Stilllegung der »14« von Westerhüsen nach Schönebeck war auch der Staffeltarif Geschichte, bei der Straßenbahn galt fortan der Einheitstarif von 15 Pfennig für die Einzelfahrt mit Umsteigeberechtigung – bis zur Einführung der D-Mark im Rahmen der Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990.

Wechselnde Gesichter

Bei der Betriebseröffnung 1921 fuhren Fahrzeuge, die ganz dem Zeitgeist entsprachen und den Bezug zu den architektonischen Linien der Neuen Sachlichkeit keinesfalls leugneten.
Ab 1970 eroberten Tatra-Wagen auf der »2«, der »12« und der »22« die Gleise und sicherten einen zuverlässigen Berufsverkehr in das Industriegebiet Südost. Heute sind die Fahrzeuge der neuesten Generation, die Niederflurgelenktriebwagen, in Westerhüsen beheimatet.

Verändert hat sich das Bild der Ortsteile, die von der (Vorort-) Straßenbahn durchfahren werden. Prägten bis 1989 Maschinenbaubetriebe und die Chemische Industrie das Bild, kehrte nach der politischen Wende mit der Stilllegung vieler Produktionsstätten ein Teil der Vorortidylle zurück. Das Engagement der ortsansässigen Bürgerinnen und Bürger lässt den Traum weiterleben, dass der Wandel der Stadtteile in Südost vom ehemaligen Industriegebiet zum naturverbundenen Vorortgebiet realisiert wird. Und die Straßenbahn fährt mit.

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