Es war Donnerstag, als wir uns, fast schon wie gewohnt, auf dem Betriebshof Nord trafen.
Wieder um 19 Uhr stehen wir vor dem Gebäude des Betriebshofwartes und warten darauf, dass alle Kollegen da sind. Im gleißenden Licht der Scheinwerfer auf dem sonst dunkelen Hof fahren fast im Minutentakt Straßenbahnen ein. Die ein oder andere erkennt man aufgrund ihrer Werbung sofort. Es ist oft noch ungewohnt, hier quasi „hinter den Kulissen“ zu stehen und all die Züge, in denen ich schon einmal Fahrgast war, nun auf den Gleisen aufgereiht für die Ausfahrt am nächsten Morgen zu sehen.
„Die 1307 mit Beiwagen 2207 ist heute euer Zug. Steht auf Gleis 12!“ sagt der Betriebshofwart zu uns. „Gute Fahrt und bis morgen!“ fügt er noch hinzu. Der Kollege hatte an diesem Tag Mitteldienst und wird schon Feierabend haben, wenn wir morgens um 3 Uhr wieder auf dem Hof einfahren werden.
Heute steht also „Gigaliner“-fahren auf dem Programm. So werden die Zugverbände, bestehend aus einem NGT mit Beiwagen, scherzhaft im Kollegium genannt. Die Beiwagenzüge gibt es seit 2011 bei uns in Magdeburg. Sie sind entstanden, als seinerzeit die letzten Tatra-Großzüge (bestehend aus zwei Triebwagen und einem Beiwagen, macht 45 Meter Straßenbahn!) abgestellt wurden und klar war, dass man Ersatz brauchen würde, da es sonst auf bestimmten Linien zu überfüllten Zügen kommen würde. Auch bei Sportveranstaltungen wie Fuß- und Handballspielen steht nicht genügend Platz in den 30 Meter langen NGT zur Verfügung. So suchte man nach einer Lösung und wurde in Berlin fündig. Die Berliner Verkehrsbetriebe BVG stellten 2009 ihre Tatra B6A2M- Beiwagen (B6A2M steht für „Beiwagen, 6. Serie,“ A2 ist ein Kürzel des Herstellers CKD/Tatra und „M für modernisiert“) ab. Nach der Wiedervereinigng 1990 hatte die BVG umfangreiche Änderungen an ihren Bahnen vorgenommen und dabei vieles dem aktuellen Stand der Technik angepasst. Eine verbesserte Geräuschdämmung zählte dabei ebenso zu den Maßnahmen, wie moderne Außenschwingtüren („unsere“ originalen T6A2 haben noch die Falttüren, die es ab Werk gab),ein anderes Bremssystem und einen modernen Fahrgastraum mit Gegensprechanlage zum Fahrer.
All diese Ausstattungsmerkmale machten die Wagen zum perfekten Begleiter für die Magdeburger NGT und so kam es, dass ab 2009 insgesamt 12 Beiwagen nach Magdeburg umgezogen sind.
Die Wagen wurden natürlich noch an unsere Fahrzeuge angepasst, damit dann zwei Jahre später 11 NGT mit Beiwagen (auch als NGT+Bw abgekürzt) im Streckennetz unterwegs sein konnten. Diese Zugkombination ist ebenfalls 45 Meter lang und damit vom Platzangebot für die Fahrgäste nahezu identisch zu den alten Tatra-Großzügen.
Gezogen werden die Wagen von den Zügen der ersten Lieferserie, also Wagen 1301 bis 1311, welche allesamt Baujahr 1994 – 1996 sind. Das sieht man ihnen an – am meisten an der heute eigentümlich-wirkenden Farbgestaltung mit türkisfarbenen und pinken Haltestangen. In den 1990-er Jahren war diese Kombination das der letzte Schrei und beispielsweise auch im ICE der Deutschen Bahn anzutreffen. Für mich hatte man eben einfach eine komische Vorstellung von Innenraumdesign, wie ich finde.
Auffälligstes Merkmal in der Fahrerkabine sind zwei zusätzliche Taster im Bedienpult. Damit kann man die Gegensprechanlage bedienen, über die die Fahrgäste aus dem Beiwagen mit dem Fahrer kommunizieren können. Der Fahrgast muss dazu einfach den gelben Knopf der Gegensprechanlage über dem Türtaster drücken. Der Fahrer hört dann den Fahrgast und kann antworten. Natürlich wird dieses „Intercom“-System genannte Gerät nicht nur für seine eigentliche Bestimmung genutzt. Meist drücken Fahrgäste auf den falschen Knopf, wenn sie aussteigen möchten. Hin und wieder kommt es auch vor, dass jemand sich einen Spaß erlaubt und eine Essens-Bestellung ins Mikrofon spricht. Ich kann euch aber versichern: einen Hamburger, eine kleine Pommes und eine Cola zum mitnehmen gibt es bei uns nicht.
Nachdem wir uns mit dem Wagen vertraut gemacht haben, fahren wir natürlich auch damit hinaus in das Streckennetz.
Das Fahrverhalten ist etwas gemächlicher, als beim Solo-NGT. Dennoch erreichen wir die 50 km/h zügig.
In der Ebene fällt mir eins sofort auf: Der Zug rollt sehr lange aus, ohne merklich langsamer zu werden. Hier kommt wieder der Vorteil einer Schienenbahn zum tragen: der sehr geringe Rollwiederstand. So rolle ich mit der Tram die freie Strecke entlang durch die Nacht.
„Wenn Du möchtest, kannst Du hier mal eine Gefahrenbremsung machen, um ein Gefühl für den Anhalteweg zu bekommen“ unterbricht unser Ausbilder das monotone Geräusch der Räder auf den Schienen.
„Gut. Dann bitte alle festhalten!“ rufe ich in den Wagen. Als alle ihr okay gegeben hatten, ziehe ich den Sollwertgeber bis zum Ende nach hinten, um die Notbremsung durchzuführen. Abrupt bremst die Straßenbahn unter ständigem Klingeln und der Zugabe von Sand ab. Die Bremskraft ist immens und mit einem wuchtigen Ruck steht der Wagen nach geschätzten 60 Metern und einigen Sekunden. „Ui, das war hart!“ sind sich alle einig. Eine gebrechliche Person hätte sich nicht aufrecht halten können, ein achtlos abgestelltes Fahrrad wäre umgefallen und hätte andere Menschen verletzen können. Ich muss einen Moment an die Kinder denken, die ich ein paar Tage zuvor in einer Bahn auf dem Weg zum Dienst herumlaufen sah. Die beiden Mädels hätten sich ebensowenig halten können. Ein wenig unwohl ist mir bei dem Gedanken.
Deshalb apelliere ich an Euch: setzt euch am besten wärend der Fahrt hin oder haltet euch immer gut fest! Ganz wichtig: Wenn Ihr Taschen, Fahrräder oder andere große Sachen bei Euch habt, verstaut diese so, dass sie im Gefahrfall nicht herumfliegen können!
Bei meiner Bremsung waren wir allein im Fahrzeug und alle vorbereitet. Im Alltag kann so eine Gefahrbremsung jederzeit passieren. Nachdem alle ihre Sachen wieder zusammen gesammelt hatten, ging die Fahrt weiter. Hinter jeder Kurve musste ich mich neu daran gewöhnen, dass der Zug fast 45 Meter lang ist und es eine kleine Ewigkeit dauert, bis der letzte Teil des Beiwagens die Kurve verlassen hat. Das ist vor allem Wichtig, wenn man über Weichen fährt. Hier gelten besondere Anweisungen für die Straßenbahnfahrer, was die Geschwindigkeiten anbelangt. So eine Weiche ist eben eine komplexe Sache und möchte mit Sorgfalt behandelt werden. Da kann es einem allzu leicht passieren, dass man zu früh beschleunigt und der Wagen am Ende des Zuges noch nicht von der Weiche herunter ist. Dann würde es ziemlich laut rumpeln und die Belasung für die Schienen wäre stark erhöht. Außerdem wäre es für die Fahrgäste im Beiwagen nicht sehr angenehm, zu schnell durch die Kurve zu fahren. Es erfordert einiges an Konzentration von mir, den „Gigaliner“ mit der richtigen Mischung aus Beschleunigen, rollen lassen und Bremsen durch die Stadt zu bewegen. Viele Male muss ich mich noch einmal ein Stück nach vorn fahren, wenn ich mal wieder zu früh in der Haltestelle zum stehen kam. Hier kann es sonst passieren, dass der Beiwagen noch nicht im Haltestellenbereich steht und die Fußgänger behindern würde.
An der Haltestelle Universitätsbibliothek halten wir schließlich an und es nähert sich eine junge Frau. Da ich die Türen nicht freigegeben habe, drückt sie vergeblich an der zweiten Tür auf den Türöffner. Im Spiegel beobachte ich, was passiert. Sie dreht sich in Richtung Zug-Spitze und läuft nach vorn. Am Gang erkennt man schon, dass sie wohl feste gefeiert hat. Ich mache die erste Tür auf, denn das geht unabhängig von den anderen Türen. „Das ist eine Fahrschule, junge Frau!“ erklärt unser Ausbilder ihr. Sie nickt etwas abwesend. „Ja, da können Sie leider nicht mitfahren“ verdeutlicht er noch einmal. „Ach so. Schade“, sagt sie mit leerem Blick und schlingert zurück zum Haltestellenhäuschen. Eine von vielen kleinen Anekdoten, die mir bei den nächtlichen Touren durch die Stadt widerfahren.
Nach knapp acht Stunden sind wir, kurz vor drei Uhr morgens, wieder auf dem Gleis im Betriebshof, auf dem wir am Vorabend gestartet waren, angekommen. Das Licht und die Heizung im Wagen bleiben auch in diesem Fall wieder an, denn nach dem Feierabend für den Fahrer beginnt der Dienst für die Menschen, die den Müll wegräumen, den Schmutz aufkehren und jeden Wagen einmal durchwischen. Um kurz vor halb vier wird der erste Wagen schon wieder mit dem Frühdienst auf Strecke gehen und die Menschen zur Arbeit bringen. Bis dahin muss alles erledigt sein. Deshalb dauert es auch nicht lange, bis die Kollegen mit Wischmopp, Besen und Lappen in der Tür stehen und mit ihrer Arbeit beginnen.
Der nächste Tag ist für uns Fahranwärter zum Glück frei. So heißt es einmal ausschlafen und etwas Zeit mit der Familie verbringen, bevor wir uns, diesmal an einem Samstagmorgen, wieder zur Typenschulung in „Nord“ treffen.
An diesem Tag steht die 4. Serie des NGT auf dem Plan.
Die Fahrzeuge tragen die Nummern 1373 bis 1383 und kamen 2012 als neueste Fahrzeuge nach Magdeburg. Auffalend ist das Facelift des NGT: Diese Fahrzeuge sehen moderner und freundlicher aus, da sie eine neue gewölbte „Bugmaske“ bekommen haben. Sie bieten, neben einem deutlich angenehmeren Farbdesign im Innenraum, viele technische Änderungen. So beschleunigen sie deutlich kräftiger, haben Außenlautsprecher (das allerbeste, wie ich finde!) und reagieren schneller auf Fahrbefehle, die ich über den Sollwertgeber einstelle. An diesem Morgen reicht die Zeit jedoch nur für ein paar Runden durch die Innenstadt. Den Zug, den wir an diesem Tag haben, fahren wir nämlich genau fünf Stunden, als uns ein Funkspruch aus der Leitstelle erreicht. „Würdet ihr bitte mal mit einem Tourenzug der Linie 2 das Fahrzeug tauschen? Beim Kollegen ist der Fahrkartenautomat kaputt und euer Wagen soll heute auf der N2 in den Nachtdienst“. Kollegialität ist alles und so tauschen wir unsere 4. Serie gegen einen älteren Zug ein. Versteht sich ja eigentlich von selbst. Eine Dreiviertelstunde später stehen wir dann schon wieder auf dem Betriebshof. Ich melde uns telefonisch beim Betriebshofwart an und erkläre ihm die Mängel des Wagens. Er dankt für unsere Hilfe (in dem Fall hätte ein Mitarbeiter der Werkstatt einen intakten Zug zur Wendeschleife und den defekten Zug in die Werktstatt fahren müssen) und weist uns ein Gleis vor der Werkstatt zu.
Vor dem Tor von Gleis 4 bleibt unsere Straßenbahn stehen. Wir machen alles soweit fertig, wie es uns der Wart angewiesen hat und verlassen den Wagen. Zum letzten Mal in dieser Woche fahre ich durch das Tor des Betriebshofs. Sichtlich müde, aber dennoch voller toller Erlebnisse mache ich mich auf den Weg nach Hause und gönne mir erst Mal ein kleines Nickerchen. Danach steht mein Sohn am Bett und möchte Eisenbahn spielen. Natürlich tue ich ihm den Gefallen und bekomme die Vermutung, dass mich Schienen nun eine Weile in meinem Leben begleiten werden.
Im nächsten Beitrag wird es ernst, denn die praktische Prüfung ist nahe. Ob ich es geschafft habe, und was danach kommt, lasse ich euch natürlich auch wissen.
Bis dahin,
Johannes.